Inhalt der Printausgabe

November 2004


Humorkritik
(Seite 3 von 8)

FIL
Vielleicht ist nicht mehr allen meinen Lesern präsent, daß ich in meiner Kolumne vom November 1990 den damals 23jährigen Berliner Comiczeichner Phil über den grünen Klee gelobt habe, "weil er so wunderbar wüst und sein schwereloser Kratzbürsten-Stil so komisch ist". In Anbetracht seines seither entstandenen Werks, etwa seiner regelmäßigen "Didi & Stulle"-Seite in der Berliner Stadtzeitschrift Zitty, habe ich keine Silbe zurückzunehmen, nur dreierlei nachzutragen: Erstens, daß sich Phil inzwischen FIL nennt, zweitens, daß er in seinem mittlerweile hinzugekommenen Zweitberuf als Entertainer und Liedermacher mindestens Ebenbürtiges leistet, und drittens, daß auf seine Bühnenkunst der in achtundneunzig von hundert Fällen falsch gebrauchte Begriff "Kultkomik" zutrifft: Die wenigsten Menschen im Lande haben je davon erfahren, doch bei dieser Minderheit steht er in hohem Ansehen.
FIL hat von der Berliner Kabaretttradition das rasante, sprunghafte Jequatsche geerbt, aber zum Glück hat er nichts vom Schnurrig-Betulichen der Dampfplauderer alter Schule. Er wirkt auf der Bühne eher wie ein Wolfgang Gruner auf Ecstasy. In jungen Jahren war FIL Punk, und wenn man es ihm auch kaum mehr ansieht und seiner Musik nicht anhört, so hat er sich doch einiges von der Gesinnung bewahrt, will heißen: eine Vorliebe fürs Direkte, Grobe, Hemmungslose. Schnell und schmutzig kommt er daher. Davon profitiert seine Komik, wie überhaupt Punk und Komik entfernte Verwandte sind, denn beiden liegt eine Verweigerungshaltung zugrunde; FIL ist einer der wenigen, die beides unter einen Hut bekommen, etwa in einem Song über den neuen Generationenkonflikt der altgewordenen Jugendbewegung: "Ich will nicht so werden wie mein Sohn / frühmorgens steht er auf, um sieben schon".
Und noch etwas kommt in FIL zusammen: Professionalität und Dilettantismus. Das Resultat ist kultiviertes Chaos. Nahezu vollkommen ist sein Timing, seine Geistesgegenwart, seine Pointensicherheit, sein Talent zum Sprachschöpferischen, seine Bühnenpräsenz. Dazu im reizvollen Kontrast stehen seine beschränkten technischen Fertigkeiten. Gitarrespielen und Singen hat er sich hörbar erst im Verlauf der Karriere selbst beigebracht, im Versbau-Verhau seiner selbstgereimten Gedichte rumpelt und knirscht es gewaltig, und ab und an vergißt er seinen Text oder verliert den Faden. Das stört aber nur Zuschauer, die von einem Kleinkunstabend ölige Reibungslosigkeit erwarten. FILs Fans hingegen wissen, daß er selbst weiß, daß es von vornherein eine Dreistigkeit ist, sich mit solchen Voraussetzungen auf eine Bühne zu stellen, und daß er, selbst wenn er anderes wollte, immer wie die Parodie eines klassischen Alleinunterhalters wirken wird. Also ist seine naturgegebene Rolle, auf der seine gesamte Figur aufbaut, die eines dreisten Parodisten.
Parodist? Keine Bange: Mit der Landplage der Grönemeyer- und Westernhagen-Nachäffer hat FIL nichts zu tun. Er ahmt keine einzelnen Künstler nach, sondern Haltungen und Genres, von der kernigen Deutschrock-Kraftprotzerei über das Free-Jazz-Gedödel bis zur Kitschpantomime eines Weißclowns.
Und das ist lustig? Ich schwöre, das ist es. Sehr viel lustiger jedenfalls als die Dutzendware, die sich in Comedyschulen zu blutleerer Professionalität schleifen läßt und eine eigene TV-Show für das Nonplusultra einer Komikerkarriere hält. FIL dagegen - und das nimmt mich am meisten für ihn ein - tut auch nach langen Jahren im Geschäft nichts Erkennbares dazu, den Underground hinter sich zu lassen und der besseren Vermarktbarkeit zuliebe gefällig zu werden. Das verschafft ihm die Unabhängigkeit und ermöglicht ihm die Bedenkenlosigkeit, die sich jeder echte Komiker bewahren sollte. Ich sah ihn zuletzt in einem für ihn eigentlich viel zu sterilen Ambiente, nämlich im Tränenpalast in der Friedrichstraße, wo für gewöhnlich an runden Tischchen Rotwein nebst leichtem Amüsemang konsumiert wird. Zu meiner Freude und zur sichtlichen Verblüffung des touristendominierten Publikums wies FIL den Tonmann, der das falsche Playback einspielte, mit einem ruppigen "Track 5, du Vollnazi!" zurecht. Das hat nichts mit den kühl kalkulierten Provokationen von Ingo Appelt und Co. zu tun, das kommt spontan aus einem warmen Herzen.
Die beiden CDs von FIL kann ich nur bedingt empfehlen, sie taugen vor allem als Dokumentation und Erinnerung. Wer irgend kann, sollte ihn live auf möglichst kleiner Bühne erleben. Nächstbeste Gelegenheit: 16.11.-11.12., Mehringhoftheater, Berlin-Kreuzberg.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Chillax, Friedrich Merz!

Sie sind Gegner der Cannabislegalisierung, insbesondere sorgen Sie sich um den Kinder- und Jugendschutz. Dennoch gaben Sie zu Protokoll, Sie hätten »einmal während der Schulzeit mal einen Zug dran getan«.

Das sollte Ihnen zu denken geben. Nicht wegen etwaiger Spätfolgen, sondern: Wenn ein Erzkonservativer aus dem Sauerland, der fürs Kiffen die Formulierung »einen Zug dran tun« wählt, schon in der Schulzeit – und trotz sehr wahrscheinlichem Mangel an coolen Freund/innen – an Gras kam, muss dann nicht so ziemlich jedes andere System besseren Jugendschutz garantieren?

Sinniert

Ihre Titanic

 Kurze Anmerkung, Benedikt Becker (»Stern«)!

»Wer trägt heute noch gerne Krawatte?« fragten Sie rhetorisch und machten den Rollkragenpullover als neues It-Piece der Liberalen aus, v. a. von Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner, »Was daran liegen mag, dass der Hals auf die Ampelkoalition besonders dick ist. Da hilft so eine Halsbedeckung natürlich, den ganzen Frust zu verbergen.«

Schon. Aber wäre es angesichts des Ärgers der beiden Freien Demokraten über SPD und Grüne nicht passender, wenn sie mal wieder so eine Krawatte hätten?

Ebenso stilistisch versiert wie stets aus der Mode: Titanic

 Du, »Hörzu Wissen«,

weißt, wie Werbung geht! Mit »Die Sucht zu töten« machtest Du so richtig Lust auf Deine aktuelle Ausgabe, um erläuternd nachzulegen: »Bestialisch, sadistisch, rätselhaft: Was Menschen zu mordenden Monstern macht – acht Täter und die Geschichten ihrer grausamen Verbrechen.«

Wer kann sich da der Faszination der »dunklen Welt der Serienkiller« noch entziehen? Aber am Ende, liebe Hörzu Wissen, ist in diesem Zusammenhang doch die Implikation Deines Slogans »Hörzu Wissen – das Magazin, das schlauer macht!« das Allergruseligste!

Da erschauert sogar

Die True-Crime-resistente Redaktion der Titanic

 Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Recht haben Sie, Uli Wickert (81)!

Die Frage, weshalb Joe Biden in seinem hohen Alter noch mal für das Präsidentenamt kandidiert, anstatt sich zur Ruhe zu setzen, kommentieren Sie so: »Warum muss man eigentlich loslassen? Wenn man etwas gerne macht, wenn man für etwas lebt, dann macht man halt weiter, soweit man kann. Ich schreibe meine Bücher, weil es mir Spaß macht und weil ich nicht Golf spielen kann. Und irgendwie muss ich mich ja beschäftigen.«

Daran haben wir, Wickert, natürlich nicht gedacht, dass der sogenannte mächtigste Mann der Welt womöglich einfach keine Lust hat, aufzuhören, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Dass ihn das Regieren schlicht bockt und ihm obendrein ein Hobby fehlt. Ja, warum sollte man einem alten Mann diese kleine Freude nehmen wollen!

Greifen Sie hin und wieder doch lieber zum Golfschläger statt zum Mikrofon, rät Titanic

 Weiter so, uruguayischer Künstler Pablo Atchugarry!

Eine angeblich von Ihnen geschaffene Bronzeskulptur im englischen Cambridge soll an Prinz Philip erinnern, der dort von 1977 bis 2011 Kanzler der Universität war. Allerdings wird das Kunstwerk, das im Auftrag eines reichen Bauträgers angefertigt wurde, von vielen als verunglückt empfunden und zieht seit nunmehr zehn Jahren Spott auf sich.

Dass Sie mittlerweile die Urheberschaft leugnen, um Ihr Renommee als Künstler zu schützen, ist zwar verständlich, aber aus unserer Sicht völlig unnötig. Wenn sich das Konzept durchsetzt, lästige Promis, die uns über Jahrzehnte viel Zeit, Geld und Nerven gekostet haben, mit langlebigen Schrott-Monumenten zu schmähen, werden Sie sich vor Aufträgen bald kaum noch retten können. Und das Beste: Weil andere Großkopferte sich mit ihren Eskapaden zurückhalten würden, um nicht von Ihnen verewigt zu werden, sorgten Sie auch noch für Ruhe und gesellschaftlichen Frieden.

Hofft, dass dieser Vorschlag einen Stein ins Rollen bringt: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Altersspezifisch

Ich gehöre noch zu einer Generation, deren Sätze zu häufig mit »Ich gehöre noch zu einer Generation« anfangen.

Andreas Maier

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 Immerhin

Für mich das einzig Tröstliche an komplexen und schwer zugänglichen Themen wie etwa Quantenmechanik, Theodizee oder den Hilbertschen Problemen: Letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft.

Michael Ziegelwagner

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Gebt ihnen einen Lebenszyklus!

Künstliche Pflanzen täuschen mir immer gekonnter Natürlichkeit vor. Was ihnen da aber noch fehlt, ist die Fähigkeit zu verwelken. Mein Vorschlag: Plastikpflanzen in verschiedenen Welkstadien, damit man sich das Naserümpfen der Gäste erspart und weiterhin nur dafür belächelt wird, dass man alle seine Zöglinge sterben lässt.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hannover, TAK Ella Carina Werner
01.05.2024 Berlin, 1.-Mai-Fest der PARTEI Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
02.05.2024 Dresden, Schauburg Martin Sonneborn mit Sibylle Berg